Sektenaussteiger und ihre verlorene Identität

Selbstliebe und das Wiederfinden den eigenen Identität

Wer sich nach jahrelanger Zugehörigkeit von einer sektenhaften Gruppierung löst, sieht sich vor einer ganz neuen Herausforderung. Es wird sehr bald feststellt, dass der Zugang zum eigenen Ich fehlt. In meiner Praxis erlebe ich in der Arbeit mit Aussteigern aus religiösen Randgruppierungen, Psychosekten und Kulten dieses Phänomen immer wieder.

Das Sekten-Ich
Manche Menschen wenden sich im Erwachsenenalter einer Gruppierung zu, doch viele wurden bereits in diese Parallelwelt hineingeboren. Das Leitbild, welches Eltern und Familie vorgeben, werden zur eigenen Realität. Unumstößlich! Es besteht kaum eine Chance, aus diesem System auszubrechen. Das Kind ist im Werte- und Lehrsystem der Eltern gefangen und ihm ausgeliefert.
Auf Gedeih und Verderb.

Werte sind wichtig im gesellschaftlichen Zusammenspiel!
Allerdings geht das Erziehungsmodell in manch religiöser Gruppierung weit über die reine Wertevermittlung hinaus oder wird zur Vermittlung falscher Werte missbraucht. Es überschreitet Grenzen. Der Mensch darf nicht mehr sein, wie er ist. Denn so, wie er ist, ist er falsch. Das vermittelt die Führerschaft. Ebenso vermittelt sie, wie eine Person in Gottes Augen zu sein hat. Die Messlatte ist hoch und kaum zu erreichen. Ständig bekommt man vor Augen geführt, fehlerhaft, sündig und unvollkommen zu sein. Egal, welche Anstrengungen unternommen werden, die Leistung ist selten ausreichend. Die zu erwartende Strafe fürchterlich. Die Angst wird zum Begleiter und macht gefügig.

Um Seelenheil und Rettung zu erfahren wird in religiösen Randgruppen empfohlen, unentwegt im Sinne derer Lehren an sich zu arbeiten, praktisch „eine neue Persönlichkeit überzuziehen“.
Epheser 4 Vers 24: „…und die neue Persönlichkeit anziehen sollt, die nach Gottes Willen in wahrer Gerechtigkeit und Loyalität geschaffen worden ist!“
Das wahre Ich ist nicht erwünscht. Es soll unterdrückt und beiseitegeschoben werden. Wo es nach und nach verkümmert und Jahre später bei einem erfolgreichen Ausstieg mühsam gesucht und wieder aufgebaut werden muss.

Die Vorgehensweise der Züchtung einer neuen Persönlichkeit beschreibt Steven Hassans BITE-Modell im Zusammenhang mit der Bewusstseinskontrolle. Dazu mehr in meinen Blogartikeln „Warum wenden sich Menschen Sekten zu“ vom 30. April 2021, oder auch „Lovebombing“ vom 13. Mai 2021.

Das echte Ich
Ist eine Person an dem Punkt angekommen, eine Sekte oder religiöse Randgruppierung zu verlassen, fällt sie meist in ein tiefes seelisches Loch. Neben dem Verkraften des Verlustes der bisher engsten Menschen im Leben, wie Familie und Freunde, beginnt die Suche nach dem wahren Selbst. Denn plötzlich stehen sie nicht nur ohne ihre geliebten Menschen da, sondern auch ohne eigene Identität.
Sektenaussteiger suchen sich oft Hilfe in der Psychotherapie, die Therapien scheitern aber immer wieder an dem mangelnden Wissen um die Mechanismen in einer Sekte. Kein Vorwurf, sondern reale Erfahrung aus meiner Praxis!

Der Ausstieg ist oftmals ein langwieriger Prozess. Zum einen fühlen sich viele noch von den Lehren ihrer ehemaligen Gemeinschaft bedroht. Zum anderen muss der Verlust aller liebgewonnenen Menschen verkraftet werden. Was im Übrigen nicht jeder schafft. Mancher nahm sich bereits das Leben, weil dieser Druck, die Verzweiflung zu groß wurden.
Ein neues Leben muss aufgebaut werden. Das echte Ich muss unter einem großen Berg alter Lehren und Glaubenssätze entdeckt, neu aufgerichtet und gestärkt, neue Werte definiert und gefunden werden.
Ehemalige Sektenmitglieder bestätigen immer wieder, nur in Schwarz-Weiss-Rastern denken und fühlen zu können. Es gilt Grauzonen zu entdecken, zuzulassen und ins eigene Leben zu integrieren.
Das eigene Leben muss neu interpretiert werden. Das ganze Lebenskonstrukt, der Sinn hinter allem bisher Gelerntem und Erfahrenem ist plötzlich nicht mehr erkennbar, zerbrochen und muss mühsam neu zusammengesetzt und aufgebaut werden. Oftmals ein jahrelanger und schmerzhafter Prozess, denn das Vertrauen in das eigene Ich ist in seinen Grundfesten erschüttert oder gar nicht vorhanden. Vor Allem, wenn man seit Kindesbeinen an tiefe Programmierungen, Glaubenssätze und Indoktrinationen in sich trägt, die Persönlichkeit in der wichtigen Zeit des Aufwachsens bereits in ein Sekten-Ich gedrillt wurde.
Fragen wie „Woher komme ich, wohin gehe ich?“
Nachdem man feststellen musste, dass man einer Lebenslüge aufgesessen ist.

Das Verlassen der Opferrolle
Ebenso gilt es, die Opferrolle hinter sich zu lassen. Zu vergeben und sich wieder aufzurichten. Trotz allem Schmerz, der damit verbunden sein mag. Wir können die anderen Menschen nicht ändern, aber wir können an uns arbeiten. Gar nicht so einfach.
Trotz neugewonnener Freiheit befinden sich Aussteiger oft in einem luftleeren Raum.
Die Vergebensarbeit ist wichtiger Bestandteil zur Heilung der eigenen Seele.
Bestandteil des Loslassens…

Sich annehmen
Aber es kann geschafft werden. Das Leben ist es wert, gelebt zu werden. Und zwar genau so, wie wir gedacht und als Mensch mit unserer Geburt auf unser Erdenrund gekommen sind. Mit all unseren Fehlern, Vorlieben, Macken usw. Was nicht heißt, dass man nicht an seinem Weiterkommen und Persönlichkeit arbeiten soll. Denn das sollte letztendlich jeder. Ob Sektenvergangenheit oder nicht.
Ich wünsche dir dabei das Allerbeste!

Wenn Du Fragen hast, schreibe mir gerne eine eMail!
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